Frederique Taiqulin

Frederique Taiqulin, 2005

Little Annie Ooh

Wenn das Sopransaxophon der Barbara Thompson „Little Annie Ooh“ nicht nur spielt, sondern fühlt, singt, strahlt, denke ich an ein Ereignis auf dem Friedhof, unten in der Stadt, dem alten, auf dem lange schon niemand mehr beerdigt wird, weil es zu eng würde und weil man sie nicht aufreißen möchte, die Gräber der berühmten Gestalten und ihrer armen Nachbarn, der Christen und der Juden, die ihre eigene Abteilung haben, die verschont geblieben war in den Schändungen des Dritten Reiches.


Ich ging gern dort spazieren, sah auf die Gräber und hatte mir, obwohl ich kein Jude war, angewöhnt, einem der begrabenen Menschen auf dem Friedhof der Vertriebenen zu gedenken, einen Stein für ihn mitzubringen und mir seine Geschichte vorzustellen, sein Leben, seine Liebe, seine Kraft, seine Schwächen, einen Menschen, wie jeder von uns ist egal ob er lebt oder vegetiert, denkt oder von tierischen Kräften geleitet, gut oder böse.


Sie sprechen zu mir, die Menschen, die eigentlich tot sind, ihn aber überwunden zu haben scheinen, wenn sie ihre Worte an mich richten, eine kleine Geschichte erzählen und sich bedanken, dafür, daß an sie, daß sie erinnert wurden. „Danke, Freund, ein Mensch ist ein wenig zurückgekehrt auf diese Welt der Wunder und Träume und darf für kurze Zeit mit dir verweilen.“


Es war ein Frühlingstag, obwohl dem Winter näher als dem Frühling, dem Abend näher als dem Mittag bei sinkender Sonne, zu hell noch um die magische Aura eines Friedhofs in der Dämmerung abzustrahlen, zu dunkel schon, um nur als Park zu gelten, zu unbelebt, um nicht ein wenig traurig zu wirken, zu lebendig, um zu trauern. Ich hatte kein Problem mit den Toten noch mit den Lebendigen. Der Tod war immer ein wenig auch Befreiung für mich, aus diesem in ein anderes Leben, wie immer es aussehen sollte. Aber ich gedachte gerne, vergaß ungern, was war oder was sein mußte, Menschen starben und waren meiner Erinnerung wert.


So ging ich an diesem Tage, langsam über den christlichen, weiträumigen Teil, der zwischen Gräbern reichlich Platz ließ, schnappte mir einen Stein von einer kleinen Bodenausbesserung, denn er wurde als Park behandelt, dieser Friedhof und ging langsam in Richtung des jüdischen Friedhofs, dessen Eingang, wie gewohnt für solche Enklaven, ein wenig versteckt lag.


Ich sah ein kleines Mädchen nachdenklich zwischen den Gräbern laufen, ihr geblümtes Kleid in Falten werfend im Schritt einer Erwachsenen, doch mit dem Mut und der Kraft eines Kindes. Ein wenig schaute ich zu, wie sie immer wieder die Grabsteine ansah, insbesondere die, denen gedacht worden war, die mit Steinen belegt waren, von Menschen wie mir, Nachfahren, oder denen die etwas wußten über die Menschen und sich erinnern wollten. „Was ist das?“, schien sie zu fragen und als ich so zusah, begann ich „Little Annie Ooh“ zu hören, unwirklich, im Hintergrund, eine Untermalung der Szene, des schwingenden Kleides, des kindlichen Charmes, des fragenden, ausdrucksvollen Gesichts, das mienenspielte ohne Pause, von fragendem Ausdruck zu fragendem Ausdruck, spielend oder fordernd: „Gib mir eine Antwort!“.


Einige Minuten vergingen, in denen ich zusah, zuhörte, dann ging ich hinüber, stellte mich langsam neben Sie und sagte:
„Die Steine sollen erinnern."
„Woran erinnern?“
„Sie erinnern an den Menschen, der hier begraben liegt, an sein Leben und an sein Handeln. Man legt einen Stein auf das Grab, wenn man sich erinnern möchte, an diesen Menschen.“
„Erinnerst du dich auch?“
„Ja. Ich komme oft hierher und erinnere mich. Dann lege ich den Stein auf ein Grab und der Mensch spricht mit mir, bedankt sich und erzählt mir ein wenig aus seinem Leben.“
„Zeig mir das!“, nun war es erwachsen, ein wenig beißend ihr Gesicht.



Ich ging zu einem Grab, das keine Steine hatte im Moment nur eine Hebräische Aufschrift, die weder zu lesen noch zu erkennen ich vermag, legte den Stein hin, trat ein wenig zurück, drehte mich dann zu dem Mädchen: „Guten Tag, mein Name ist Moische Rosenstock und ich lebte in einem kleinen Haus nahe dem jüdischen Viertel. Als Kind spielte ich mit dem kleinen selbst gebauten Kreisel meines Vaters, liebevoll bemalt, auf der Straße vor unserem Haus. Ich war elf, als ein Pferdewagen hielt, mich eine Hand oder ein Arm packte und mitnahm aufs Land. Dort mußte ich arbeiten für einen Bauern, doch floh ich zurück in meines Vaters Haus. Als ich ankam, waren meine Eltern verschwunden, nur die Tochter des Nachbarn, Anneliese, saß auf einem Stein und weinte. Ich mochte sie, ihr Gesicht und begann über ihr Haar zu streicheln. Ihr Vater stürmisch, aufbrausend machte dem ein Ende, denn sie waren Christen unsere Nachbarn. Er schlug auf mich ein und ich starb an den Verletzungen.“,


ich war selbst ein wenig geschockt, daß ich einem Kind so etwas erzählte, aber ich ließ meine Gedanken einfach in die Worte fließen. Ich wußte nicht, ob es sie erschreckt hatte, denn als ich hinsah, war sie verschwunden.


Ich ging hinaus in den christlichen Teil und es fiel mir ein kleines Grab ins Auge: „Anneliese Altstett; 1834-1847;“.


Seit diesem Tage sehe ich sie oft mit „Little Annie Ooh“ über den jüdischen Teil des Friedhofs laufen.


Sie grüßt mich mit einem dankbaren Blick und ein Grab auf dem Friedhof ist übersät mit Steinen.