Frederique Taiqulin

Frederique Taiqulin, 2005

Das Blauweißkarriert...

Eine Geburtstagsgeschichte für meine große Liebe



Oben in den Bergen liegt Schnee und leise Winde singen durch die Kluften, die vom Wetter gegraben leichte Harfenklänge hauchen. Ein kleines Wesen, sitzt auf einem Stein und weiß nicht warum es sitzt und warum es überhaupt hier ist in den Bergen, erinnert sich nicht daran, wie es herkam, wo es herkam und eigentlich schaut es nur, bei jedem Wetter über das Tal hinweg vor ihm hinüber zu den andren Bergen, die fern, aber genauso weiß erschienen, wie der eigene. Es sitzt nicht ganz oben, sondern in einer schmalen Stufe, zupft gelegentlich am viel zu weiten blau und weiß karrierten Hemd, das wegen der Feuchtigkeit ein wenig festklebt. Die eigentlich weiße Hose ist ein wenig ergraut von den Ausbrüchen des Bergklimas.


Es schaut hinüber mit einem leichten Seufzer, den es nicht zuordnen kann über das Tal hinweg und plötzlich fragt es sich, warum es hier sitzt, warum es nicht einfach aufsteht und geht, irgendwohin. Ja, es steht auf, wackelt ein wenig, weil die Beine vergessen haben, wie es funktioniert mit dem Stehen und Laufen, holpernd über die kleinsten Steine fällt das Wesen, puff auf die Nase, die sowieso schon ein wenig platt ist. Schlangenlienien, stolpernd, doch immer weiter, nicht aufgeben, entdecken, wie es geht, das Laufen, es lernen nur durch den Versuch und das kleine Wesen holpert bald nicht mehr so sehr, als ein Bieber, der einen kühlen Bergbach staut, es sieht und staunt, was das denn sein könnte, sich ihm vorsichtig nähert und lacht über das unbeholfene Wesen:


„Was bist denn Du?“


„wasssbisss'nndu“, wiederholt das Wesen über sich erstaunt, denn es weiß nicht, was es heißt zu sprechen, versteht aber instinktiv den Sinn hinter den Worten und deutet auf seinen Berg, sagt nur leise und konzentriert: „Taaa“.


„Ganz schön karriert – du bist wohl ein Blauweißkarriert?“


„BBBBBllauweiiiiiiskarrrrierrrrt“, es genießt das Rollen des „r“ in seiner Stimme, die es das erste mal hört, oder sich nicht mehr daran erinnern kann, sie jemals benutzt zu haben, jemals gesprochen zu haben. Und nun hat es einen Namen bekommen, ja, das muß ein Name sein, sein Name, der eigene Name, es ist das Blauweißkarriert!


Und zu hüpfen beginnt es, vergißt den Bieber und sein Reden: „BBBBBB“, Sprung, „Platsch“, der seichte Bach hinter dem Staudamm des Biebers wehrt sich nicht gegen das reinfallende „lauuuweißkarrrrrrriertt“, das die plötzliche Erfahrung des Rauschens genießt und mitrauscht: „RRRRRRR“, gar nicht merkt, daß der Bach es langsam bewegt und mitnimmt, wie die kleinen Steine um es herum, deren Poltern es hört und nachmacht: „PRPPPP“, reibt es Steine in der Stimme. Vögel zwitschern und das Blauweißkarriert nimmt alles auf, singt, piepst, entdeckt Geräusche, als gibt es nichts anderes und es erinnert sich nun an die Harfenklänge des Berges, erinnert sich daran, wie gern es diese Klänge hatte, obwohl es diese niemals wirklich wahrnehmen konnte. Es erkennt, daß es Geräusche liebt und spielt mit ihnen. Wie von selbst weiß es auf einmal, daß es sprechen kann, daß es Worte für Dinge gibt, die sie bezeichnen und sie dadurch greifbar machen.


Weit treibt es hinunter, der Bach wird zum Fluß, beruhigt sich irgendwann in einen Hafen und ein Boot fährt rudernd vorbei: „Bschsch“ rudert das Blauweißkarriert und lacht!


Wenn es könnte würde es jetzt hüpfen vor Freude und leise sagt es: „Hüpfhüpfhüpf...“ vor sich hin, stellt sich vor, wie es ist zu hüpfen und rudert im Wasser ein wenig von oben nach unten und wieder hoch, tauch unter und fängt an zu sehen, zu sehen, was in diese Welt so alles bietet, mit den eigenen Augen. Ja, es hatte auch nie gesehen, nie vorher – ja, ein wenig, mit den Augen, aber nicht mit dem Kopf.


Es sieht Fische im Wasser, ahmt ihre Kiemenbewegungen nach, lacht, sieht die Ruder der Boote ein und austauchen, kleine Insekten auf der Wasseroberfläche, denn Sommer ist es hier unten und warm. „Mehr!“, sagt es, als es wieder auftaucht in Richtung Ufer paddelnd, denn dort gibt es so viel zu sehen.


Blühende Bäume, Blumen und Menschen, ja, es hat noch nie Menschen gesehen, denkt es, immer nur das Tal und den Berg gegenüber und jetzt , da ihm das sehen so viel Spaß macht, weiß es, daß es das Tal liebt und die Berge und den Schnee, der dort oben immer liegt und wie sich die Sonne im Schnee spiegelt in allen Regenbogenfarben , oder sich im Eis bricht in die Farben des Lichts, alle Farben, Pastelleislicht!


Ein kleiner Junge spielt am Ufer, ein wenig betrübt, weil er niemanden hat, der mit ihm spielte, allein, denn die großen sind zu groß und die kleinen zu klein, seine Mutter muß arbeiten und sein Vater war schon lange weggegangen, fort, einfach fort und der Junge weiß nicht mehr, wer er gewesen war.


Er sieht irgendwas schwimmen, irgendwas, was immer mit der Nase saugt, Luft einsaugt, riecht, aber kümmert sich nicht darum. Ist ihm egal. Er sieht es nicht wirklich.


Ja es riecht, das BWK (nein, nur weil ich im Stau sitze im Auto und zu faul bin, es auszuschreiben, aber keine Parallelen ziehen – ich mag keine Bundeswehrkrankenhäuser!), es riecht die Blumen und die Pollen in der Luft, das Wasser, die Fische, die Menschen, ein unglaublicher Cocktail aus Eindrücken und das Blauweißkarriert, das mittlerweile an Land ist ist, hüpft und freut sich.


Da sieht es den kleinen Jungen, der mit sich selbst beschäftigt ist und ein wenig traurig guckt, merkt die Traurigkeit, geht zu dem Jungen und sagt: „Hüpf! schön – riech mal!“, hält ihm eine wunderbar duftende Blume unter die Nase.


„Rieche nix.“, sagt der Junge verwundert, daß ihn irgendwas anspricht, das er nicht sehen kann.


„Bin hier!“


„Sehe nix!“, der Junge macht sich nicht die Mühe hinzuschauen.


„Das ist Problem! Riechst nix, siehst nix!“, das BWK schaut ein wenig bedrückt.


„Verstehe ich nicht!“


„Nase riecht, Augen sehen, Ohren hören, Mund reden! Reden geht, anderes nicht. Was hörst Du?“


„Den Fluß.“


„Nicht mehr?“


„Mehr nicht.“


„Hörst nicht die Vögel? Hörst nicht die Bienen? Hörst nicht die Pferdefuhrwerke? Hörst nicht den Wind? Nicht das Geplapper der Menschen? Nicht die Staubkörner, wie sie sich unterhalten? Nicht mich?“


„Höre nicht mehr.“


„Wird Zeit! Was siehst Du?“


„Den Boden.“


„Nicht die Blüten, wie sie sich bewegen? Nicht die Sonne, wie sie scheint? Nicht die Vögel am Himmel? Nicht die Wolken, wie sie schöne Formen bilden? Nicht mich?“


„Sehe nur Boden!“


„Wird Zeit! Schau hierher!“, das BWK schreit, damit der Junge auch wirklich in seine Richtung sieht. Er staunt nicht schlecht, ein so kleines Wesen zu sehen und lachen tat es auch, obwohl es allein zu sein schien, wie der Junge. Er versteht nicht.


„Nimm mich auf Hand!“, der Junge tut, was er soll, betrachtet das karierte Wesen auf seiner Handfläche einträchtig. „Was bist du denn?“


„Blauweißkarriert!“


„Das sehe ich. Wie heißt du?“


„Du siehst? JAAAAA! Heiße Blauweißkarriert!“, und hüpft auf der Hand hin und her und auf und ab, freut sich so, weil der Junge sehen kann.


„Höre die Vögel!“, sagt der Junge.


„Na also, geht doch.“, hüpft das BWK und freut sich noch mehr, als der große Junge hell und strahlend lacht, wie ein Feuerwehrsirenenauto.


Die beiden fangen an hören und sehen und reden und fühlen zu üben, immer mehr und immer bewußter, immer tiefer und immer schöner, fast wie ein Traum erscheint es dem Jungen, daß er jetzt erkennen durfte, wie und was die Welt ist. Er hält eine Blüte in den Händen, fühlt den weichen Stempel und die Pollen auf seinen Fingern, sieht den leicht gelben Staub und riecht daran, riecht und riecht und riecht.


Ein Tanz beginnt, ein Tanz durch die Welt, ein Flug in ihre Schönheit, aber auch ein Bewußtwerden, daß es auch schlechte Dinge gibt, daß nicht alles immer schön ist, aber immer schönes bleibt und das schöne überwiegen kann, wenn man es nur wahrnimmt, denn wahr ist es und bleibt es.


Fliegend eilen sie nach Hause. Die Mutter ist so froh, den kleinen Jungen glücklich und ausgelassen zu sehen und fragt gleich nach dem warum, worauf „mein Prinz“, wie sie ihn nennt, wenn niemand dabei ist das kleine BWK zeigt, das die Mutter anstrahlte und sie verstand. „Du bist wiedergekommen!“, sagt sie, „hattest es versprochen, ja, ich wußte, daß du eines Tages wiederkommen würdest und meinen Jungen glücklich machen, wie du damals zu mir kamst und wir fanden, was wichtig ist im Leben. Das muß jeder selbst finden, durch dich, durch das kleine Blauweißkarriert!“


Der Prinz und das BWK wundern sich, verstehen nicht, weil doch die Mutter das gar nicht wissen kann. Woher wußte sie nur, woher?


„Vor langer Zeit, als ich ein kleines Mädchen war, kamst du zu mir, lehrtest mir den Tanz durch die Welt, lehrtest mich lachen und freuen an kleinen Dingen. Du mußtest nach Hause, ich verstand das, weil du sagtest, du liebst den Berg und das Tal und das pfeiffen des Windes im Harfenklang. Du sehntest dich danach. Ich habe das Glück nie vergessen, habe es immer in meinem Herzen bewahrt und als du gingst, hast du versprochen, wannimmer ich oder ein Teil von mir unglücklich ist, wirst du wiederkommen, weil du es fühlst, weil du mich fühlst. Der größte Teil meines Lebens, mein Prinz, war traurig, weil wir in diese Stadt zogen, weil sein Vater nicht mehr da ist, weil niemand mit ihm spielen will und ich allein konnte ihm nicht alles geben, was er brauchte – du hast es gespürt, bist zurückgekommen.“,


und nimmt das BWK in die Finger, weil die Arme zu groß sind für das kleine Wesen und die Mutter es nicht erdrücken will.


Plötzlich erinnert sich das BWK, erinnert sich, wie es sprechen gelernt hatte bei der Mutter, wie sie zusammen entdecken lernten, wie sie zusammen lernten die Welt zu umarmen. Es fühlte die alte Wärme, zersprang fast vor Glück, denn es hatte sein wahres Zuhause wiedergefunden.


Die Tür klopft, oder eher jemand an der Tür, ein leises, dann ein lauteres Klopfen. Die Prinzenmama geht hin, öffnet, verstummt doch lächelt. Ein Prinzenpapa steht vor der Tür, mit gesenktem Blick.


Leise im Hintergrund hört man Harfenklänge und wenn man genau hinschaut, sieht man ein tiefes Meer rauschen...