Frederique Taiqulin

Frederique Taiqulin, 2005

Die Fliege

Ziemlich müde, aber doch reichlich guter Laune fuhr Jonny an diesem ertrinkenden Montag ins Camp. Er hatte sich eigentlich gesträubt an seinem Geburtstag Dienst zu schieben, aber nach dem Autounfall eines Kollegen war ihm nichts anderes übriggeblieben als zuzusagen. Also arbeiten, den Tag lang einen roten Knopf bewachen. Gut bezahlt, jedoch langweilig, doch mit einer guten Lektüre konnte man es ertragen, wenn niemand hinschaute und Wegschauen hatten sie gelernt in den Jahren des kalten Krieges, der sich beendet hatte und damit auch die Existenz des Camps in Frage stellte. Es würde abgebaut werden im nächsten Jahr und Jonny würde versetzt werden in ein anderes, oder er würde entlassen werden und sich bei einer privaten Wachgesellschaft bewerben. Mit seiner Ausbildung würde er mit Kußhand genommen. Die Uniform zwickte, als er langsam an das riesige Stahltor heranfuhr und in den Taschen nach seinem Militärausweis kramte – vergessen.


„Sorry Charlie.“ „Ahh, schon wieder – fang mal wieder mit dem denken an Johnny. Du kannst ihr ja nicht ewig nachtrauern, oder? Ach ja: weitere 100 Jahre! Was machst du heute Abend?“ „Ich werde mit dir durch die Kneipen ziehen!“ „Hey, fein – laß uns ein paar Frauen abschleppen.“


Jonny dachte an Anne, seine Frau, die ihm weggelaufen war vor zwei Monaten. Sie sagte, er könne ihr nichts bieten außer Langeweile. Ja, sein Leben verlief ohne große Tragik, ohne Ausschweifungen und Spontanität. Er hatte einfach im Laufe seines langweiligen Jobs die Langeweile in sein restliches Leben übertragen. Er war einsam ohne sie, wollte keine andere. Sein Bauch rebellierte, als er langsam weiterfuhr hinüber zu den Raketenreservoirs, weiße Bunker mit seltsam versteckten, eingegrabenen Türmen, denn man durfte ja nicht wissen, was sich darin verbarg. Keiner wußte, ob diese Raketen scharf waren, oder Attrappen, denn es waren immer nur wenige Stellungen mit scharfen Raketen besetzt und diese wanderten gelegentlich in Form einer Übung an einen anderen Platz. Jonny stöhnte. Weiter 12 Stunden rumsitzen. Er stieg aus seinem Buik, der ihm zu groß erschien, jetzt, da Anne mit ihrem Kind verschwunden war zu ihren Eltern irgendwo bei New York. Weg von diesen ländlichen Trostlosigkeiten in die Hitze der Stadt, oder Stadtnähe.


Er schloß ab, zupfte die Uniform zurecht und bereitete sich auf die Ablösung vor. Er mußte noch auf den zweiten Mann warten, denn natürlich durfte diese Aufgabe nicht alleine durchgeführt werden. Es ging um eine vernichtende Waffe, Zerstörung einer ganzen Stadt und einer riesigen Umgebung darum. Menschen wegwerfen mit einem Knopfdruck, Macht. „Hey Jonny, alles Gute. Albert wird nicht kommen, du weißt ja: die Grippewelle.“


Er würde es gegen die Vorschrift, doch geduldet, alleine machen müssen. Um so langweiliger, wenn man nicht einmal jemanden zum reden hat. Jonny schloß den Kofferraum auf und stöberte in dem Durcheinander herum nach ein paar Comics. Das war die Art Lektüre, die ihn einigermaßen wach hielt ohne seine Gedanken zu sehr zu strapazieren. Er laß anspruchsvollere Comics, war immer auf der Suche nach neuem, ein richtiger Fan der gezeichneten Geschichten. Er fand die neuen, die er letzte Woche in „Reichlins Comic Shop“ erstanden hatte, der einzigen vernünftigen Quelle im Umkreis von 200 Meilen. Ein alter Deutscher, der das Klischee des durcheinanderen Buchladens lebte.


Er gähnte, als er an den Deutschen dachte. Der sprach so langsam in seinem gebrochenen Englisch, daß man ihm helfen mochte mit den Worten, sie herausziehen mochte aus dem schmalen Mund, der immer mit Bartstoppeln umgeben war. Jonny überlegte, wie man nur die Barthaare auf so einer kurzen, jedoch nie ganz rasierten Länge halten konnte. Ob er immer nur an den falschen, an den unrasierten Tagen kam?


Er stiefelte langsam, langweilig hinein, begrüßte kurz die Abzulösenden und ging dann in den Raum mit den Knöpfen, in den fensterlosen, staublosen, doch seltsam technischen Raum. Das grelle Licht der Leuchtstoffröhre ließ die Augen sich zusammenziehen. Jonny schaltete das Radio an, das aus Gründen der Unterhaltung immer hier stand. Elvis. Er haßte Elvis, drehte an der Sendereinstellung und schloß parallel dazu die Tür. Verschloß diese mit seinem Schlüssel, denn die Tür bildete eine wichtige Barriere, war unmöglich aufzubrechen. Dickes Metall, schwer, Sicherheit. Nur mit Motoren zu bewegen, nur über Knöpfe zu öffnen und zu schließen und mit mechanischem Schlüssel, Kontrolle der Iris und elektronischer Schlüsselkarte und natürlich nur von innen. Nur die Iris eines bestimmten Generals konnte die Tür von außen öffnen.


Nachdem er einen besseren Sender gefunden hatte setzte er sich an den kleinen Tisch, warf seine Comics, die er zusammengerollt in der Jackentasche transportiert hatte, darauf und stöhnte, als eine Fliege, die er mit hereingelassen hatte, sich auf seine Nase setzte. Langsam hob er die Hand und schlug danach, wollte nicht auch noch von einem Insekt gequält werden. Sie flog rechtzeitig weg und er begann ihr hinterherzujagen. Auch eine Art der Beschäftigung. An der Wand schien die Chance gut. Jonny benutzte einen Comic, jedoch nicht ohne daran zu denken, daß es ziemlich schade war, wenn dieser mit Blut einer Fliege befleckt wurde. Aber es war ein festgezurrter Gedanke, ein eingebranntes Muß diese Fliege zu erwischen. Eine Abwechslung in seinem Leben vielleicht, ein herausreißen aus der Langeweile seiner Welt. Mord an einer Fliege.


Die Fliege machte ein lustiges Gesicht, wollte gejagt werden, schien es, doch nicht um erschlagen zu werden, ganz bestimmt nicht. Man sollte nun die Gedanken dieser Fliege denken können, als sie summend auf einem Knopf Platz nahm, einem roten und ihren kleinen Rüssel zur Nahrungsaufnahme oder Nahrungssuche ausfuhr, als ein Comic schnell, sehr schnell näher kam, doch sie sich rettete kurz vor dem Aufprall, oder glaubte sich gerettet zu haben. Ein Comic, der sich nicht retten konnte vor dem Niederdrücken eines roten Knopfes, vor der folgenden Sirene und dem hektischen Treiben außerhalb des Raumes, würde unbeschmutzt bleiben von Fliegenblut. Jonny erschrak, als er eine Rakete abheben hörte, eine Rakete nach Osteuropa, nach Moskau, denn die Ziele wurden nie umgestellt und waren selten militärisch. Vernichtung von möglichst vielen Menschen.


Die Fliege summte weiter, Jonny fiel auf den Boden, sein Kreislauf schien zu schreien, er weinte, krümmte sich zusammen, als die Fliege den Schweiß von seiner Stirn leckte. Jonny zog den Revolver ohne zu überlegen und schoß sich dorthin, wo die Fliege die Stirn getrocknet hatte.


Als Moskau explodierte öffnete ein General die Tür mit seiner Iris und man fand Jonny in einer Blutlache, die einen Comic durchzog und eine Fliege, die den nahrhaften Inhalt eines Menschen in sich aufnahm.