Frederique Taiqulin

Frederique Taiqulin, 2005

Hmmm

Es war einmal ein Wunder, das hatte sieben Töchter, die allesamt dem Wunder nicht gerecht wurden. Da schickte die Mutter die Töchter in die Welt, sie sollten wahre wunder werden und sie machten sich auf in die Weite der Erde, in die Dunkelheit und ins Licht, um den Menschen Glück zu bringen, die es am wenigsten erwarteten.


Sie gingen das erste Stück des Wegs gemeinsam, sahen Elend, Kriege, Unmenschlichkeit, Verderben und fühlten sich so traurig, so endlos Dunkel, daß ihnen die Kraft fehlte Wunder zu sein, diesen leidenden Menschen zu helfen, ihnen das Ende allen Krieges, das Ende allen Leids zu bescheren. Sie fühlten sich zu klein, nicht Wunder genug vielleicht, machtlos irgendwie. Es ist eben nicht leicht, ein Wunder zu sein. Die Töchter begannen, sich voreinander zu schämen, weil sie nicht die Kraft hatten wirkliche Wunder zu sein, weil keine von ihnen sich traute, diesen leidenden Menschen das absolute Glück zu schenken oder wenigstens eine Andeutung davon, weil keine sich hineindenken konnte in diese Menschen oder in diese Leiden. Sie hatten versagt und zerstreuten sich in alle Winde, gingen einsam, traurig ihre Wege.


Sie glaubten versagt zu haben, jede einzelne, wollten helfen, doch konnten nicht, schienen so hilflos, so hilflos wie die Menschen selbst. Die erste kam in eine Stadt und wurde Mensch, denn natürlich können Wunder Menschen werden oder Menschen Wunder sein. Es ist wie ein Phasenübergang ein anders werden und doch bleiben wie man ist, ein flüssig zu fest oder fest zu gasförmig, ein neu ordnen der Atome oder der Wesensteilchen, die das Sein ausmachen. Der Mensch wurde Leiterin eines Armenhauses und half den Kindern auf der Straße, den armen Bettlern, den verkrüppelten Soldaten und den hilflosen Freudenmädchen, die endlich jemanden hatten, der verstand warum sie sich verkauften und jemanden, der ihnen half es nicht mehr so oft tun zu müssen. Es war ein kleines Wunder dieser Mensch, aber ein wirksames, denn sie konnte die reichen bewegen zu geben und die Armen zu kommen und am Ende verging ein wenig der Traurigkeit der Stadt. Es sind die kleinen Wunder, die groß sind.


Die Zweite wurde Wind und streichelte jeden Sommer das Meer und die Haare der Menschen an ihm. Mit einem warmen Hauch mit warmem Regen, brachte sie ein wenig Freude in das Leben der Strandbesucher, ein wenig Bewegung in das Meer und ein wenig Romantik in die Herzen der liebenden, die den Strand als Zufluch ihrer Nähe sahen. Das warme Streicheln breitete sich aus bis in das Landesinnere. Auch Pflanzen und Tiere genossen es und wuchsen schöner, prächtiger denn je.


Zwei hatten etwas Glück in die Welt gebracht. Vier Schwestern sahen es und der Neid packte sie, sie wollten besser, schöner, mächtiger sein, als ein Wind und menschlicher als ein Mensch. Eine fünfte hatte andere Ambitionen. Aber Märchen müssen der Reihe nach erzählt werden, der Abfolge nach, dem Wesen, dem Sinn nach. So bleibt uns nichts, als über schlechte Wunder zu berichten, denn auch die gibt es, denn auch die sind Teil dieser Welt und unseres Lebens. Ja, wenn wir darüber nachdenken, gibt es mehr schlechte als gute Wunder, aber es sind Wunder, sie bewirken etwas, verändern etwas und manches schlechte kann zum guten werden, durch ein weiteres Wunder oder es war schon immer gut, schien nur schlecht oder manches ist schlecht und schien uns gut. Oft sind sie getrübt unsere Augen, die Augen der Menschen, von unseren Gedanken oder Gefühlen. Das Leben wirbelt Staub, manchmal Sand auf, der uns lange die Augen verschließen kann. Eine Welle muß den Sand wegspülen, uns die Augen wieder klar machen, damit wir frei sehen können.


Die dritte Schwester fand einen Bettler in einer Straße der Stadt. Er wurde als Kind verkrüppelt von seinem Vater, nicht aus Sadismus, sondern um ihm einen vernünftigern Lebensunterhalt zu ermöglichen. Mitleid muß erzeugt werden, das verstand der Vater und schlug mit einer Eisenstange auf die Beine eines Kindes, das aufschrie, das seinen Vater haßte in diesem Moment, das nicht verstand.


Sie sah den Bettler, die Beine und wurde ihm Knochen, neu und fest wurden die Beine, ein Wunder, doch für unseren Bettler das schlimmste, das schrecklichste, was ihm hatte passieren können. Er verlor das Mitleid der Menschen, verlor sein Einkommen, sein Essen, seinen Beruf und er konnte nichts anderes tun, starb an seinem Wunder drei Monate später, an dem Wunder und an Hunger, doch nicht bevor auch er ein Kind schlug mit einer Eisenstange, um ihm das zu ersparen, was ihm widerfahren war. Manches erscheint uns gut, doch ein ungetrübter Blick muß es als schlecht erachten. Die Gesundheit eines Menschen ist etwas wunderbares, wenn er die Chance bekommt, sie einzusetzen.


Die vierte Schwester sah einen Krieger, dem die Kräfte schwanden auf dem Schlachtfeld. Sie heilte ihn, indem sie ihm Mutter war für viele Monate, pflegte seine Wunden, doch schaute nicht in seinen Geist. Er war ein Schläger, ein brutaler Geselle, ein schlechter Mensch, der von Stadt zu Stadt zog, brandschatzte und sich alles nahm, was er brauchte für sein ausschweifendes Leben. Seine Rüstung glänzte, doch seine Seele war schwarz, schwarz wir die Nacht und fest wie ein Stein, unnahbar und unmenschlich. Er tötete einen guten König zwei Monate nach seiner Genesung und unterdrückte sein Volk, peitschte es, zerquetschte es und tötete jeglichen Widerstand. Ein Diktator entstand aus einem, der schon längst tot sein sollte und viele starben an seiner statt.


Manche Menschen sollte man ihrem Schicksal überlassen, manche Menschen sind so getrübt in ihrem Blick, daß sie nicht mehr zu retten sind, daß die Größten Wunder ihnen nichts mehr geben.


Die fünfte Schwester wurde Berater eines Königs, schickte ihm Träume, schöne Träume, Träume eines blühenden Reiches, das er erschuf. Seine Untertanen wandelten im Glück, denn er war großzügig, verzichtete lieber auf alles Gold, um Menschen lachen zusehen. Das war ein schönes Wunder, eines, das vielen Menschen ihr Lachen zurückgab. Doch ein Neider, ein Krieger kam eines Tages und sah die blühenden Felder und Bäume und roch Macht und roch Geld und mordete den König, das gute Wunder, kehrte es zum schlechten und grausamen und alle Menschen des Reiches fielen in eine endlose Traurigkeit, in eine Dunkelheit, wie sie vorher niemals herrschte in diesem Reich. Das Wunder war verloren. Ja, sie schimpften auf den König, der die Neider anzog, der zu gut war in ihren Augen, zu gut im Nachhinein. Menschen, die ein zu schönes Leben haben werden es irgendwann als Nachteil sehen, dann nämlich, wenn sie die ersten Hürden sehen und dann ihrem Leben vorwerfen, daß es diese nicht vernünftig verteilt hat. Doch das Leben kann nicht gerecht verteilen, sonst wäre es kein Leben, wäre es ohne Reiz, denn jeder wüßte, daß er sein Stück des Kuchens bekäme, sein Stück Glück. Unglück allerdings ist auch oft selbstgekocht. Wenn man denkt man wäre traurig ist man es auch. Wenn man Glück fühlt, häuft es sich an, sammelt es sich in einem und man könnte denken, es hört niemals auf.


Die sechste fand einen traurigen Menschen auf der Straße und brachte ihn zum Lachen. Er lachte, wurde Clown und fühlte sich frei, frei wie ein Vogel oder ein Löwe in der Wüste, ein Wolf oder ein Hase, der dem Jäger entkam. Er lachte, obwohl sein Vater starb, seine Mutter verhungerte und seine Frau ihm weglief. Er lachte obwohl sein Herz weinen mußte und sein Herz zerriß, weil er es nicht konnte. Er hatte das weinen verlernt durch ein Wunder. Der Arzt sagte, er wäre an einem Lachkrampf gestorben, aber es war das zerrissene Herz, das ihn umbrachte, die fehlende Trauer, die genauso schlecht ist, wie fehlende Freude. Der Mensch ist alles das, er ist Trauer, Freude, Haß und Liebe. Kein Mensch kann Mensch sein ohne diese Gefühle, er muß Tier werden, wenn er auch nur eines davon verliert.


Die jüngste der Töchter sah alles, sah, was ihre Schwestern gutes und schlechtes vollbracht hatten, sah die Welt, die kaum besser geworden war durch diese Wunder und wollte kein Wunder sein, wollte nicht sein, doch wollte sie auch alles geben, alles. Sie sah ein Mädchen in einer Ecke einer Straße sitzen und weinen. Viel Zeit war vergangen seit den letzten Wundern der Schwestern, Jahrhunderte. Schnelle Autos fuhren auf den Straßen, bunte Menschen hetzten durch die Läden ohne Zeit und ohne Augen für wesentliche Dinge. Die Schwester sah dem Mädchen in die Augen. Es hatte schlechte Noten bekommen in der Schule und saß da, traute sich nicht nach Hause, zitterte und wagte nicht aufzublicken oder jemanden um Hilfe zu fragen. Das wunder wurde Geschichte, eine kleine kurze Geschichte, diese Geschichte, gab sich dem Mädchen, das anfing langsam zu lesen:


„Hmm – Es war einmal ein Wunder, das hatte – hmm – sieben Töchter...“