Frederique Taiqulin

Frederique Taiqulin, 2005

In der Ferne sitzt ein Gnom auf einem Fensterbrett

Eine entfernte Liebesgeschichte



In der Ferne, da wo niemand hinsieht, auch du nicht, dort in der Ferne, wo keiner hinkommt, auch nicht du, da sitzt, glaube es mir, ein einsamer Gnom auf dem Fensterbrett und weil niemand ihn sieht, ist er ein wenig traurig, fühlt sich allein in seiner Welt, deshalb sitzt er den ganzen Tag auf dem Fensterbrett, so als wolle er sagen: „Ich warte auf dich.“, oder „Bitte sprich mich an, ich bin alleine.“. Er selbst ist die Kerze, die im Fenster brennt, die den Weg leuchten will in die Ferne, dorthin wo er sitzt der Gnom in seinem grünen Gewand, das bis auf den Boden hängt, denn er hat es von seinem Vater vor langen Jahren, der ein wenig größer war, als er selbst und niemand hatte es ihm kürzer gemacht, denn es kam ja keiner zu dem Gnom auf dem Fensterbrett.


Er hat ein seltsames Gesicht mittlerweile, ein faltiges, fragendes Gesicht, denn er macht den ganzen Tag nichts anderes, als nachdenken, ob er alleine wäre in der Welt und ob irgendwann einmal jemand kommen würde und ob er diesen Fremden verstünde, oder er seine Hände benutzen müsse, um sich verständlich zu machen. Sicherlich müssen Gnome auch manchmal essen, aber er hat seinen Garten direkt vor dem Fenster und braucht nur kurz herunter zu steigen und einen Kohlkopf zu nehmen, den er meist schnell verschlingt, damit er keine Zeit verliert, um über die Welt nachzudenken.


So richtig bewußt ist es ihm nicht, dem Gnom, daß er alleine, einsam ist, denn seine Eltern sind schon lange gestorben und er kennt es nicht anders, als alleine zu sein. Er fragt sich so oft, warum er denn eine Sprache gelernt hatte, warum er überhaupt hier sein müsse, oder was die Kohlköpfe wachsen ließ. Ja, er sitzt auf seinem Fenster, doch in diesem Moment, wenn du an ihn denkst, ihn dort auf dem Fenster sitzen siehst mit seinen fast schwarzen tiefen Augen und seinen kurzen Haaren, die nicht wachsen wollen, den Falten, die ihn alt machen, aber auch weise, gerade in diesem Moment denkt er, nein weiß er, daß er nicht allein sein kann auf der Welt und springt herab von seinem Fensterbrett in den Garten.


Er packt seinen kleinen seit Jahren unbenutzten gelben Rucksack, eher Seesack, wenn er wüßte, was denn ein Seesack wäre, setzt den verstaubten Hut auf, den mit der Feder, den sein Vater ihm aus Stroh geflochten hatte mit dem grünen Hutband, das so gut zu dem Gewand paßt, ja sogar daraus gefertigt ist, aber das weiß er nicht und geht wieder hinaus, durch die Tür diesmal, die wegen seiner Gewohnheit auf dem Fensterbrett zu sitzen quietscht und sich kaum öffnen läßt.


Du glaubst mir nicht? Warte ab, laß mich nur weitererzählen, du wirst schon sehen, wirst sehen, daß alles wahr ist, was ich sage, daß ich es nicht erfinde, warte nur und, nein bitte geh nicht, bleib bei mir, bitte, denn wem soll ich sonst erzählen? Wer würde mir denn zuhören, wenn nicht du? Bitte bleibe hier, setz dich wieder hin und laß mich weitererzählen, ja, so ist es gut, bleib sitzen und höre, schön, daß du da bist.


Er geht den alten Weg entlang, den Weg in den Wald, der zuerst verboten war für ihn und den er dann gelegentlich mit seinem Vater gegangen war bis zur alten Waldhütte, in der ein Wunderheiler lebte einst, das hatte sein Vater ihm erzählt und er hatte ihm Bücher gezeigt vom Wunderdoktor, seltsame Bücher mit seltsamen Buchstaben, die auch sein kluger Vater nicht zu interpretieren wußte. Aber das ist eine andere Geschichte. Natürlich ist er verwachsen, verwildert der Weg und der Gnom geht kurz zurück in sein Haus und holt ein großes Messer, um ihn freizuschneiden, denn er will zumindest bis zu dieser Hütte kommen, an die er sich noch erinnert, erwartet aber, nichts zu finden, als Verfall, morsches Holz oder vielleicht nur ein Fundament, ein Denkmal seiner Einsamkeit, die er immer noch nicht versteht.


Die grünen Äste geben nach, wenn auch der Gnom nicht bei bester Fitness ist, wer ist das schon, wenn er den ganzen Tag nur auf dem Fensterbrett sitzt? Aber er bemüht sich und kommt voran, langsam, aber jetzt gerade ist er etwa zehn Meter weit gekommen, nur zehn Meter, ja, ich weiß, das ist nicht viel, aber er muß doch den Weg frei machen und das dauert eben seine Zeit. Du fragst dich jetzt, ob er jemals irgendwo ankommt, wenn er in diesem Tempo weitermacht, ja, zurecht fragst du dich, aber bitte, bleib da und hör noch ein wenig zu, du wirst sehen, wirklich, laß mich nicht allein. Setz dich wieder hin, ja, genau, hör zu, bleib hier, danke, daß ich erzählen darf, danke, daß du zuhörst.


Er ist erstaunt darüber, daß der Wald den Weg noch nicht ganz überdeckt hat, noch nicht ganz zu dem seinen gemacht hat, es ist noch ein Weg, in den eben ein paar Büsche hereinragen und den ein paar Wurzeln, dunkle, mächtige Wurzeln ein wenig schwierig gemacht haben, der Gnom muß aufpassen, daß er nicht stolpert, daß er nicht fällt und vielleicht auf einer der Wurzeln landet. Es ist anstrengend und innere Hutband, daß sein Vater in den Hut hineingeklebt hat, um den Schweiß zu sammeln und den Hut selbst ein wenig vor der Feuchtigkeit zu schützen, dieses Band ist vollgesogen und der Schweiß beginnt an seiner Nase hinabzulaufen in kleinen, jetzt in größeren Tropfen und fällt auf den Boden und auf sein grünes Gewand und es werden Salzflecken entstehen daraus, es wird sich punkten, das Gewand durch seine Anstrengung, kleine Marienkäferpunkte zuerst, dann vielleicht Flächen, wer weiß.


Nein, geh nicht, er ist jetzt kurz vor der Hütte, bleibe noch, ich habe wirklich recht, du wirst sehen, ich weiß es, ich bin nicht verrückt und ich erfinde es nicht. Ja, bleib sitzen, nimm ein Glas Wein, du hast noch eine Flasche im Kühlschrank, die müßte jetzt die richtige Temperatur haben. Hol sie dir und höre zu, bitte.


Er kommt gerade an der Hütte an, die keine mehr ist, wie er erwartet hat, die nur noch Fundament ist, aber in der Mitte der Hütte steht eine Metallkiste, dreckig, ja und ein wenig verrostet aber für ihr Alter ist sie in gutem Zustand, in sehr gutem Zustand. Sie sollte sich öffnen lassen, denkt der Gnom und denke ich, denn ich sehe sie mit ihrem Schnörkeln am Rand und den vier Beinchen, die wie Hundebeinchen geformt sind und die Spinne oben auf dem Metalldeckel, nein keine echte, eine Spinne aus Metall, eine übergroße schwarze Witwe, vielleicht um Angst zu machen, ich glaube ja.


Der Gnom wirft seinen Umhang zurück und nimmt sein Messer, setzt es an zwischen Dekel und Korpus und hebelt mit aller Kraft, denn er ist neugierig, möchte, wie auch ich, wie du sicher auch, oder, wissen, was da drin ist. Aber er rutscht ab, er bekommt es nicht sofort auf, versucht es erneut. Gnom, du brauchst etwas größeres, dein Messer reicht nicht. Hol dir einen größeren Hebel, oder baue dir einen. Er hat mich gehört, nimmt sich einen seltsam geformten Metallstab vom Boden und setzt ihn an. Er ist zu dick und findet keinen Halt in dem kleinen Schlitz zwischen den Teilen. Er baut sein Messer an den Stab und drückt mit aller Kraft, mit allem, was übrig ist. Ja, das Schloß gibt nach, ja, noch ein wenig es wird sich öffnen lassen, es knallt und ist offen. Nun werden wir es endlich erfahren, nun werden wir endlich sehen, was sich darin befindet es sind – hmm – Bücher, ich sehe Bücher. Die ganze Kiste ist voll davon. Der Gnom nimmt sich eines und liest. Das kenne ich, ja, das ist Odysseus, ja, Homer, was eine Geschichte. Aber er hat keine Lust zu lesen und er hat schon lange nicht mehr gelesen, deshalb wirft er es zurück in die Kiste, nein nicht, weil er die Geschichte nicht mag, sondern, weil es ihn ermüdet, zu viel zu lesen. Ja, ich weiß, du ließt gerne viel, ich weiß, ich werde dir auch immer schreiben viel schreiben, damit du lesen kannst, denn das willst du ja, ich weiß, ich werde dir immer wieder Worte schenken, immer wieder, was soll ich auch sonst tun? Aber der Gnom kann nicht so viel lesen, das mußt du verstehen, er hat doch die ganze Zeit auf seinem Fensterbrett gesessen und die Beine baumeln lassen und gedacht, nur gedacht. Er hat es verlernt in gewisser Weise, das Lesen und das Schreiben auch. Also läßt er sie liegen, die Bücher und geht weiter, den Weg entlang, den zugewachsenen Weg, den er immer noch mit seinem Messer freischlägt und er schwitzt noch mehr, immer mehr. Na ist doch ganz natürlich, oder? Er muß doch weiter, hat er doch gehört, daß ich von ihm erzähle, denn Gnome hören alles, wenn es um sie geht und er weiß genau, daß du mir nicht glauben willst, daß du mir einfach nicht glauben willst. Bitte glaube mir, ein wenig wenigstens, denn ich liebe dich, wirklich und ich möchte dich nicht verlieren, niemals, vertrau mir ein wenig und laß uns weitermachen, ja?


Er macht sich Sorgen, ob er vielleicht hätte sitzen bleiben sollen auf seinem Fensterbrett, allein und nicht suchen nach anderen, ob er vielleicht einsam hätte sitzen bleiben sollen und warten, denn das kennt er doch und der Wald hier ist ihm fremd. Er weiß nicht mehr, was ihn erwartet, was in ein paar Stunden, geschweigedenn, was morgen sein würde. Er fühlt sich im Chaos lebend, im chaotischen, feindlichen Wald, der ihn anzuschreien scheint mit seinen grünen hängenden Ästen: „Ich will dich nicht.“, „Hau Ab!“, „Ich bringe dich um!“. Er hat Angst, das erste Mal in seinem Leben, aber er kämpft sich weiter durch, geht nicht zurück, er weiß, daß da etwas sein muß irgendwo.


Er weiß, daß es dich gibt und daß er dich lieben wird, aber du es nicht glaubst, er weiß, daß er dich liebt, aus der ferne, er dich finden will, dir nah sein möchte, bitte bleib, hör zu, laß ihn dir ruhig näher kommen, vertraue auch ihm, denn er ist mehr als dein Freund, er ist mehr. Und er kämpft nicht mehr für sich, er kämpft für dich, um dir alles zu schenken, was er geben kann, er lebt im Chaos, verließ seine langweiligen, wenn auch geordneten Verhältnisse, damit er zu dir kommt eines Tages, damit er sich dir zu Füßen werfen und sie küssen kann, damit du endlich glaubst, endlich, was ich erzähle. Jetzt bist du dir unsicher, weißt nicht mehr, ob ich vielleicht doch Recht habe, ich weiß, aber hör einfach nur weiter zu, bitte, ein wenig noch, so lange will ich es nicht machen, er wird kommen, er wird, lasse ihn nur, bitte.


Er kommt auf eine Lichtung im Wald mit weichem grünem Gras, das einlädt zu einer Verschnaufpause. Er muß ja schließlich noch ein Weilchen laufen, bevor er ankommt, aber es wird schon, er wird ankommen. In der Mitte der Lichtung setzt er sich und kramt in seinem Rucksack nach seinem Saxophon, ja, alle Gnome spielen Saxophon, wußtest du das nicht? Und er hat es gelegentlich mal ausgepackt und auf dem Fensterbrett gespielt, wenn er nicht denken konnte und es half ihm, seine Gedanken wieder zu finden. Er legt sich in die Sonne und spielt, er spielt lustig und leicht, denn die Sonne lädt ihn auf wie eine Batterie, wie einen Akku mit Energie und das Spiel entsprechend. Er wächst, wirklich, er wächst und der Mantel ist nicht mehr ganz so viel zu groß, als er aufsteht und sich weiter aufmacht den Weg entlang. Da hinten sieht er ein Haus, da wo Fuchs und Hase sich gute Nacht sagen, da unten auf dem Land, in deiner Nähe und er denkt sich, das muß es sein, da mußt du wohnen. Er stellt sich vor der Türe auf, zittert, denn er weiß, das was da kommt wird sein Leben verändern, wird es schöner oder häßlicher machen, je nachdem, wen er trifft, aber er weiß, wen er trifft, denn er liebt diesen Menschen, das weiß er, von ganzem Herzen liebt er und er wächst noch einmal, so daß der Mantel jetzt paßt und er menschengroß ist. Er klingelt, ja, du hörst richtig, es ist deine Klingel, mach auf, bitte mach auf, ich warte so lange. Ich werde warten, bitte aber mach auf! Nein, zögere nicht so lange, irgendwann einmal wird er enttäuscht abdrehen und sich auf den Weg zurück machen zu seinem Fensterbrett, mach endlich auf! Du öffnest und ich stehe endlich vor dir, bitte laß mich dich umarmen, denn ich liebe dich, verdammt nochmal, laß mich rein, bitte, laß uns den Rest gemeinsam erzählen, nicht ich, wir, laß uns den Rest gemeinsam erzählen, bitte.


Ich bitte dich mit einem Kuß, am Ende.