Frederique Taiqulin

Frederique Taiqulin, 2005

Alles beginnt mir Gustav

Fern scheinen Augenblicke, die man gewünscht doch nie erhalten hat in Momenten der Angst. Träume mein Freund, aber erwarte den Traum nicht im Traume. Lebe mein Freund, aber erwarte den Traum nicht im Leben. Erwarte mein Freund, aber erwarte keinen Traum, erwarte nicht mehr als das Leben




Alles beginnt mir Gustav und alles endet mit ihm, aber vielleicht sollte erst einmal klar sein, wer oder was Gustav überhaupt ist? Gustav ist ein Rüpel, der von drüben aus dem Nachbarhaus, der Jonas immer verprügelt hatte in den vergangenen Wochen. Ja, alles begann mit ihm am diesem Tage. Jonas hatte ein wenig Angst, als er langsam vor die Türe trat. Er nahm all seinen Mut zusammen und lief los. Als er um die dritte Ecke bog, sich beinahe schon im sicheren Gelände, d.h. in der langen Einkaufsstraße, befand, wo Gustav sich hüten würde, genau im letzten Moment also sah er ihn vor sich stehen mit seinem Norwegerpullover und den blauen Jeans, die immer ein wenig zu groß waren. Gustav hatte ein Allerweltsgesicht, niemand würde ihm seine Brutalität zutrauen und er konnte sich perfekt aus allem herausziehen. Erwachsene hatten das Bedürfnis, ihm zu glauben, was er schamlos auszunutzen pflegte. Gustav stellte sich in den Weg und Juian stoppte stotternd:


„Iss gut, ich habe die Stifte dabei.“, er würde seine neuen Farbstifte, die grellbunten, die ein wenig glänzten auf glattem Papier, an Gustav geben, wenn er nur heil davon kommen würde heute.


„Bitte Gustav, laß mich in Ruhe, bitte.“


„Gib her.“, er nahm die Stifte an sich und wollte gerade ausholen mit seiner rechten Faust, sie in Jonass Magen landen lassen, langsam aber kraftvoll, so daß es eine Weile wehtun, aber keine Spuren hinterlassen würde, Spuren, die die Wahrheit verraten hätten. Er wollte also grade zuschlagen, als seine Faust auf einmal stoppte, er sich umdrehte, ein leises: „Entschuldigung“ nuschelte, die Stifte fallen lies und in Richtung Schule weiterlief.


Jonas war perplex. Er stand da, erwartete den üblichen Schlag, der ausblieb, sah die Buntstifte auf die Straße fallen mit einem leisen „Ping“ und dachte an nichts. Er stand still, etwa zwei Minuten, konnte vor Verunderung auch danach nur langsam weiterlaufen, würde zu spät kommen, aber es war egal. Irgendetwas fühlte sich gut an. Er hatte die Stifte im Nebel seiner Gedanken aufgehoben, sie in seinen Rucksack gelegt in die kleine Stifttasche neben dem Lesebuch. Nun erwartete er seine Schläge in der Schulpause.


Er kam zu spät, doch die Lehrerin, eine dieser jungen, frisch von der Universität gekommen, noch ehrgeizig und noch voller Tatendrang, aber auch verzeihender als die meisten älteren, den Kindern näher, sowohl was das Alter als auch das Denken anbetrifft, verzieh sein zu spät kommen mit einem: „Kann passieren. Das sollte aber das letzte und einzige Mal bleiben, Jonas.“


„Ja Frau Marquard.“, er saß ganz vorne, nicht weil er das wollte, aber er bekam immer den letzten Platz jedes Jahr, weil er nicht kämpfen konnte um die besseren, vielleicht weil er zu feige war, um sich einfach zu nehmen, was ihm zustand, vielleicht, weil er einfach nur dastand, wenn es um die Verteilung der Plätze ging und es über sich ergehen ließ. Jonas war nicht gut in der Schule, obwohl er alles verstand, was die Lehrerin sagte und auch sehr gewissenhaft seine Arbeit tat, aber eben eher passiv dasaß und nichts tat. Außerdem war er in Arbeiten immer so nervös, daß ihm einfach nichts einfiel, wenn er schreiben sollte. Zuhause, in Ruhe, oder auch wenn es nicht benotet werden würde, dann hätte er es ihnen allen gezeigt.


„Ich habe eure Arbeit korrigiert. Einer hat mich besonders positiv überrascht. Er hat einem hervorragenden Aufsatz geschrieben. Jonas, magst du deine kleine Abhandlung vorlesen?“


Jonas stotterte: „I...Ich?“


„Ja bitte Jonas.“


Er stand auf, mußte das wirklich sein? Er wollte das eigentlich nicht, nein, er konnte das auch nicht, vor allen und vor allem vor Elvira, neben der er gerne sitzen würde. Der Platz war frei, aber er hatte erstens Angst, sie würde nicht neben einem Versager und Langeweiler sitzen wollen und zweitens würde er von den anderen nur auf die Schippe genommen werden: „Der setzt sich neben Mädchen.“. Er schaute kurz zu ihr hinüber, sie lächelte, denn sie wußte, daß Jonas weder Versager noch Feigling sein mußte, daß es einfach nur von ihm gemacht war und auch sie hätte ihn gerne neben sich gehabt, sie würde ihn nachher fragen, oder ihm mit seinen Augen bescheid geben, wenn er verstand.


Jonas stand auf, ging zum Pult, nahm sein blaues Heft in die Hand, drehte sich um und zitterte. Er fing an:


„Die Welt ist eigentlich nicht sehr schön. Wenn man darüber nachdenkt, welche Gedanken manche andere haben, die zum Beispiel andere verprügeln, obwohl sie nichts getan haben.“, er wurde ruhig, sehr ruhig, sprach über seine Gedanken, über andere über die Welt wie er sie sah in seinen Worten:


„Oder Kriege, die Menschen führen, ohne Gründe, ohne darüber nachzudenken, welche Auswirkungen es wirklich hat auf die vielen Kinder. Ich frage mich, warum sich Menschen nicht einfach in Ruhe leben lassen. Dann wäre sie schön, die Welt.


Wenn ich in manche Augen schaue, denn ich habe gemerkt, daß man darin sehr schön lesen kann, was manche Menschen denken, dann sehe ich, daß es schöner sein könnte, vielleicht schöner sein wird. Ich träume mir sie schön, die Welt.“


Elvira saß einig verträumt da. Sie hatte zugehört, das war ihr denken, das war, was sie dachte, fühlte, was alle fühlen sollten. Ja, es war sehr unüblich für zwölfjährige solche Gedanken zu haben. Sie begann zu applaudieren. Auch Gustav applaudierte – unverständlich.


„Ich habe dir eine Eins dafür gegeben. Du hast auch nicht so viele Rechtschreibfehler gemacht, wie sonst.“


Irgendetwas fühlte sich gut an, immer noch. Er wollte sich an seinen Platz setzen, als er Elvira winken sah, als wolle sie sagen, komm, setz dich hier her, zu mir, wir werden uns sehr gut verstehen. Sie lächelte, freute sich über die neue Offenheit, die sie hervorbrachte und die Jonas mit einem breiten Strahlen der Wärme bestätigte.


Er traute sich endlich: „Darf ich mich da rüber setzen?“, fragte er in der Pause seine Lehrerin.


„Na klar, mach nur, dann sitzt du auch nicht mehr alleine da vorne.“


Er nahm seine Sachen und niemand lachte, niemand machte sich lustig, keiner veräppelte ihn. Er schaute in Elviras Augen und sah die Freundschaft, die er suchte, die er jahrelang vermißte, das Ende seiner einsamen Tage im Garten, wie niemand mit ihm spielen wollte und er nur immer hörte: „Der Jonas ist doof und langweilig. Mit dem spielt man nicht.“


Er lud Elvira für den Nachmittag ein, wollte einfach mit ihr reden und ein wenig spielen, daß würde auch seine Mutter freuen, denn sie sagte immer: „Hast du denn keine Freunde.“, worauf er zu antworten wußte: „Die verstehen mich nicht.“ Und er sich in sein Zimmer zurückzog und las oder eine seiner Geschichten schrieb über seine Träume. Er packte dann alle Phantasie aus, flog zu den Sternen, ließ sich einfach in die Welt hinaus treiben. Würde er wirklich jemanden haben, der ihn verstand.


Sie liefen ein Stück gemeinsam, nach der Schule.


„Ich dachte du würdest niemals fragen.“


„Ich habe mich nicht getraut, dachte auch du wolltest alleine sitzen.“


„Ich habe damals extre Gabi abgewiesen, damit du den Platz bekommst. Aber du hast dich an den anderen gesetzt.“


„Jetzt ist es gut.“


„Ja, das ist es.“, sie schauten sich in die Augen und freuten sich auf den Nachmittag.


Den ganzen Nachmittag erzählten sie sich Geschichten, sahen sich gemeinsame Abenteuer erleben. Phantastisch, nicht mehr nur alleine fliegen, nein, gemeinsam phanatisieren und es im Spiel umsetzen. Jonas und Elvira retteten einen Elefanten im Urwald, kämpften mit einem Tiger in Indien und flogen auf einem kleinen Drachen über ihr Land der Träume sich aneinander festhaltend und hoffend, der Nachmittag würde niemals vorüber gehen.


Es war ein kalter Morgen, als Jonas aufwachte, von der Mutter geweckt: „Jonas, es ist Schule.“ Er fühlte sich ein wenig angeschlagen, aber es reichte nicht, um Zuhause zu bleiben. Er stand auf, zog sich an und sah die Geschichte auf dem Schreibtisch liegen, die er gestern abend noch geschrieben hatte. Er nahm sie und warf sie wie üblich in den Papierkorb, wissend, daß seine Mutter sie herausfischen und aufheben würde, der Erinnerung wegen. Frühstücken wollte er nicht. Er nahm seinen Rucksack, stieß die Tür auf und lief los. Als er um die Ecke der Straße bog, stand Gustav vor ihm und grinste breit.


„Ich habe die Stifte dabei.“, sagte Jonas selbstsicher und eine Faust landete in seiner Magengrube mit einem leisen Puff und einem lauten Aufschrei Jonas‘.


Elvira ging teilnahmslos auf der anderen Straßenseite vorbei.